Nervenkitzel einer alten Dame

An der Bushaltestelle Reventloubrücke sehe ich eine alte Dame aus dem Bus steigen. Sie trägt einen Hut und einen Mantel. Ihr Gesicht ist dezent geschminkt. Ihren linken Lederhandschuh hat sie an, den rechten hält sie in der Hand. In meiner Phantasie fährt sie schwarz.

Jeden Morgen nimmt sie den neun Uhr Bus und fährt an die Förde. Sie liebt die Spaziergänge, aber noch mehr liebt sie den Nervenkitzel des Busfahrens ohne Ticket. Angefangen hat alles im Sommer, als sie einmal vergessen hat, ein Ticket zu kaufen. Keiner hat es bemerkt. Und ihr ist es erst an der letzten Station vor ihrem Ausstieg aufgefallen. Die Weiterfahrt war aufregend und hat dem Tag etwas besonderes gegeben. Am nächsten Tag ist sie in den Bus gestiegen und hat wissentlich kein Ticket gelöst. Und die Aufregung genossen. Und jetzt kauft sie an keinem Tag mehr ein Ticket.

Kontrolliert worden ist sie noch nie. Bis heute. Heute steigen zwei Kontrolleure in den Bus. Ihr fährt der Schreck in die Glieder. Aber eine Ausrede hat sie parat: Sie hat einfach ihr Monatsticket zu hause vergessen, wird sie sagen. Der Fahrer könne ja bestätigen, dass sie jeden Tag fährt und da müsse sie ein Ticket haben.

Der Kontrolleur, ein junger Mann, kommt näher. Ihr wird jetzt doch ein bisschen übel. Sie hat noch zwei Stationen bis zu ihrem Ziel. Bis dahin ist der Kontrolleur bei ihr. Ganz sicher. Sie fängt an zu schwitzen. „Ihren Fahrschein, bitte.“ Der junge Mann steht vor ihr. Sie zieht ihren rechten Handschuh aus und öffnet ihre Handtasche. Umständlich sucht sie in der Tasche.

Der zweite Kontrolleur kommt dazu. Sie gibt vor, ihn nicht zu bemerken und kramt weiter in ihrer Handtasche. „Mach doch mal hinten im Bus weiter“, hört sie ihn sagen. Sie schaut auf. Der Kontrolleur, ein älterer Herr, deutet eine Verbeugung an: „Gestatten. Mein Name ist Konrad Meier. Dürfte ich sie auf einen Kaffee einladen?“

Und in Wirklichkeit ist wahrscheinlich alles ganz anders.

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