Die Alpakafarm

An der Förde sehe ich einen Mann mit einem weißen Rauschebart und einer Designerbrille und eine Frau mit einem Strickschal. Sie berlinern über Alpakawolle. In meiner Phantasie bessern sie ihre Rente mit einer virtuellen Alpakafarm auf.

„Ick finde, Michel ist ein schöner Name für ein hellbraunes Alpaka“, sie schaute ihrem Mann über die Schulter auf den Bildschirm des alten PCs. Dort flackerte ein Foto von einem hellbraunen Tier.
„Jut.“
Übernehmen Sie eine Patenschaft für Michel, tippte er auf die Webseite ihrer Farm.

Ihre Farm lag am Fuß der chilenischen Anden. Auch in Deutschland gab es Alpakafarmen, aber da könnten die Leute auf die Idee kommen, ihr Paten-Alpaka besuchen zu wollen. Nein, ihre Farm war in Chile. Das brachte auch noch einen Schuss Exotik in die ganze Sache.

Die Leute bekamen etwas für ihr Geld: Das gute Gefühl, sie unterstützen eine Alpakafarm in Südamerika, rührende Geschichten über neugeborene Tiere und einmal im Jahr ein Paket mit allerfeinster Wolle. Die Wolle kauften die beiden in ihrem jährlichen Urlaub in Kiel auf dem Wochenmarkt. Dort hatten sie einen günstigen Händler entdeckt.

Manchmal vergaßen sie, dass ihre Farm nur virtuell war. Sie hatten sich die Farm ganz genau ausgemalt: mit der riesigen Weide, dem Unterstand, in dem es immer genug Heu für die Tiere gab und im Mai die alljährliche Schafschur. Sie fühlte das Fell von Max, Moritz, Monika, Veronika und bald auch Michel unter ihren Fingern, wenn sie einen Schal, eine Mütze oder eine Weste aus Alpakawolle strickte. Er träumte nachts von seiner Herde.

Und in Wirklichkeit ist wahrscheinlich alles ganz anders.

2 Gedanken zu „Die Alpakafarm

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